Da staunte ich nicht schlecht, als ein geheimnisvolles, schmales Päckchen für den Freundeskreis im Briefkasten lag. Der Inhalt: Semesterprogrammhefte der KSG und ESG Leipzig aus den Jahren ’74, ’76, ’77, ’78 und ’79, außerdem ein Begleitheft zur Rosenthalwallfahrt 1978. Katharina Staffa war unserem Aufruf „Spenden Sie Erinnerung“ aus dem letzten Freundesbrief zur Vorbereitung des 100. Geburtstag der KSG im nächsten Jahr gefolgt und hatte diese Kleinode aus ihrem Archiv herausgeholt.
Als erstes fällt die wundervolle Gestaltung der Heftchen auf. Die Titelbilder sind alle im Linolschnittverfahren gedruckt, der Inhalt mit Schreibmaschine getippt und von Hand kopiert. Jedes Heft ist ein eigenes kleines Kunstwerk. Der Aufwand, mit dem sie liebevoll hergestellt wurden, ist heutzutage gar nicht mehr vorstellbar. Aber auch der strenge Vermerk „Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch!“ erinnert daran, dass wir es hier mit einem Zeugnis aus einer anderen Epoche zu tun haben. Die Grußworte wurden übrigens in ökumenischer Zusammenarbeit vom legendären Studentenpfarrer Wolfgang Luckhaupt der KSG und von Pfarrer Christoph Magirius beziehungsweise Pfarrer Dieter Ziebarth der ESG verfasst.
Die Hefte erzählen uns vom Alltag (und Feiertag) der KSG in den 70ern: Der Appell, an den Wochenenden nicht nach Hause zu fahren („Wer in Leipzig bleibt, braucht keine Langeweile zu haben! Jeden Freitag in der KSG ein Informationsabend! Jeden Sonnabend 5-Uhr-Tee mit Gespräch! Jeden Sonntag Eucharistiefeier und danach selbstverständlich Mittagessen!“), lässt vermuten, dass die KSG es nicht ganz einfach hatte, die vielen Pendlerstudenten für sich zu gewinnen. War Mutters Sonntagsbraten eine ernste Konkurrenz für den KSG-Gottesdienst?
Daneben verrät die Liste der Themenabende ein vielfältiges Interesse der Studenten. So wurde sich durchaus kritisch mit der eigenen Kirche auseinandergesetzt (z.B.: „Quo vadis, II. Vatikanum?“ am 5.10.76, „Der Vatikan und das 3. Reich“, am 25.10.77, „Ringlein, du mußt wandern – Ehe in der Krise“, am 3.1.77). Im Vergleich zu heute beeindruckt mich besonders, welch großen Stellenwert die Literatur für die damaligen Studenten besessen haben musste: In den Heften finden sich Abende zu Sartre, Brecht, Camus, Dostojewski, Saint-Exupéry, Max Frisch, schließlich auch ein „Literarischer Abend mit eigenen Gedichten“ (12.7.77). Sogar ein Wochenende mit dem Schriftsteller und Übersetzer Rainer Kunze (in Mansfeld 12.-14.11.76) wurde angekündigt – ob es tatsächlich auch stattgefunden hat, nachdem der Autor wegen kritischer Texte bereits im Juli ein faktisches Berufsverbot erteilt bekommen hatte? Jedenfalls kann die heutige KSG nicht mit der Lesewut der 70er mithalten. Der letzte Gemeindeabend zu einem literarischen Thema scheint mir Ewigkeiten her zu sein – wenn ich mich nicht irre, war es „Tolkien als Katholik“ 2015.
Das politische Umfeld wurde ebenfalls nicht ignoriert (z.B: „Der neue Himmel und die alte Erde – Christen und Sozialismus, mit Pf. Magirius“, am 22.11.77 und „Kennen wir die Nichtgläubigen? – Eine Frau, die entdeckt werden sollte – Rosa Luxemburg, mit Dr. Richter“, am 22.5.1979). Hier wäre es interessant zu hören, wie viel Annäherung und Kritik den Studenten möglich war, die bei solchen Themen vielleicht besonders unter Beobachtung standen…
Eine Reihe von Themen könnte freilich genauso auch heute in den Programmheften der KSG stehen, etwa zu Glaube und Naturwissenschaft, Genetik, Partnerschaft, Psychologie, Philosophie, Meditation, den Sakramenten und Umweltschutz. Diese Themen gehören einfach zu den Klassikern, die wahrscheinlich auch in den nächsten Jahrzehnten immer wieder neu auftauchen werden. Die größte Überraschung für mich als Spät- und Westgeborener sind allerdings gleich mehre Abende zur Konsumkritik (z.B.: „Der auf dem Altar des Konsums verblutende Mensch“, am 19.12.1978). Wie kann es sein, dass die Studenten vor vierzig Jahren – unter den Umständen des real existierenden Sozialismus! – ein größeres Bewusstsein für die Probleme des Konsum besaßen als wir heute? Vielleicht haben wir heute, angesichts endloser Warenregale und allgegenwärtiger Werbung, einfach vor den Forderungen und Verlockungen der Konsumgesellschaft kapituliert. Schließlich beweist die Unzahl an Ratgeberbüchern zum Minimalismus und zur Reduktion („Magic Cleaning: Wie richtiges Aufräumen Ihr Leben verändert“), dass die Konsumkritik längst schon vom Kapitalismus vereinnahmt wurde und monetarisiert wird. Eigentlich wäre es da an der Zeit für die Neuauflage solcher Themenabende – gerne auch mit Studenten von damals!
Ein herzliches Dankeschön an Katharina für die Zusendung!
von Martin Palauneck