Interview mit Prof. Dr. Eberhard Tiefensee

„Als Ungarn aufging, war ich gespannt, wer zurück kommt.“

Eberhard Tiefensee lebt nach 21 Jahren als Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt wieder in Leipzig. Hier ist er aufgewachsen, über die Wende war er  Studentenpfarrer in der KSG. In seiner frisch bezogenen, altehrwürdigen Wohnung in Gohlis sprechen wir über diese Zeit – und darüber, was Studentengemeinde ausmacht.

Sie sind 1952 geboren, haben in Erfurt Theologie studiert und sind 1979 zum Priester geweiht worden. Nach der Promotion waren Sie dann 1987 bis 1991 Studentenpfarrer in Leipzig. Wie ordnen Sie die Station in Ihren eigenen Lebenslauf ein?

Ich war schon Studentenpfarrer in Zwickau gewesen, neben meiner erste Kaplansstelle von 1979 bis 1982. Dort gab es nur Fachhochschulen und es war ein eine relativ kleine, überschaubare Gruppe. Nach der Promotion 1986 hieß es, dass ich Studentenpfarrer in Leipzig werden sollte, aber es gab im Ordinariat offensichtlich etwas organisatorisches Durcheinander.

So bin ich nominell, aber nicht aktiv, bis 1987 Studentenpfarrer in Karl-Marx-Stadt gewesen, während ich als Kaplan in Frohburg und Borna saß. Im Sommer 1987 habe ich schließlich dann doch die Studentengemeinde Leipzig übernommen – nach einem für sie etwas wilden Jahr mit drei Studentenpfarrern. Thomas Gertler von den Jesuiten war 1986 im Sommer gegangen, als ich kommen sollte. Dann hat ziemlich überraschend Eberhard Prause, vorher Studentenpfarrer in Dresden, die Gemeinde geleitet, bis er sich 1987 zu Ostern entschied, eine Pfarrgemeinde in Dresden zu übernehmen. Daraufhin übernahm kurz Wolfgang Trilling die Gemeindeleitung bis zum Sommer, er lebt nicht mehr. Er war Oratorianer und schon zuvor öfters eingesprungen, wenn es in der Studentenpfarrerreihe eine Lücke gab.

Als ich im Sommer 1987 kam, hatte ich den Eindruck, dass die Gemeinde das aber ganz gut gemeistert hatte. Vor allem hielt die sehr kompetente Sekretärin, Monika Skorupa, die Stellung, die aber, für mich ungünstig, im Herbst ’87 aufhörte. Sie und der Gemeinderat hatten das Jahr gemanagt.

War nach den vielen Wechseln die Skepsis Ihnen gegenüber groß ?

Im Gegenteil! Die KSG hatte ja schon 1986 mit mir gerechnet und war eher überrascht, dass es plötzlich ganz anders entschieden wurde. Ich hatte mich sogar im Sommersemester 1986 durch einen Vortrag quasi vorgestellt. Es kam dann allerdings folgendes dazu: Der Studentenpfarrer hatte eigentlich immer im sogenannten „Hexenhäuschen“, kurz „Hexe“, gewohnt. Das Gebäude findet man heute unter der Adresse Karl-Tauchnitz-Straße 5 als Hinterhaus, damals eigentlich nur für Insider auffindbar. Einige in der Gemeinde signalisierten mir deutlich, dass sie erwarteten, dass ich dort wieder einzog, denn Pfarrer Prause hatte in der Propstei am Rosental gewohnt. Nur hatten  inzwischen die Studenten die „Hexe“ besiedelt. Mit guten Gründen – das war ja Wohnraum. Es mussten sich also zwei Studentinnen eine neue Bleibe suchen. Ich glaube aber, dass ist friedlich über die Bühne gegangen. Die Sekretärin, die eigentlich schon gekündigt hatte, machte glücklicherweise noch bis zum Patronatsfest im November mit. Sonst wäre der Anfang für mich wahrscheinlich sehr schwer geworden!

Es gab damals also eine feste Stelle für eine Sekretärin in der KSG?

Ja, wir hatten eine feste Sekretärin. Und zwar unter anderem deshalb, weil Leipzig traditionell noch den Vorsitz der Studentenpfarrer-Konferenz Ost hatte. Den habe ich nach kurzer Zeit auch wieder übernommen – ein ziemlicher Organisationsaufwand. Überhaupt: Die DDR-Verhältnisse kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Die Herstellung von Programmen zum Beispiel war jedesmal eine Riesenaktion!

‚Programm‘ ist ein gutes Stichwort. Können Sie uns ein Bild zeichnen, wie das typische KSG-Leben aussah?

Das Hauptangebot war dienstags der Themenabend, an dem ein Vortrag stattfand. Da hatte sich in Leipzig ein relativ ungewöhnliches Verfahren herausgebildet, um zu einem Programm zu kommen – was ich für sehr gut hielt. Bevor das Studienjahr losging – oder jedes Semester? – taten sich Studenten in kleinen Gruppen zusammen, die jeweils ein komplettes Programm herstellten. Da wurde also mehrere ausgearbeitete Vorschläge auf den Tisch gelegt. Dann wurden diese Gruppen zu einem Gemeinderatswochenende eingeladen; es gab also eine ziemlich große Beteiligung bei der Programmabstimmung.

Erst einmal musste jede Gruppe ihr Programm vorstellen und verteidigen: Warum sollte dies oder jenes da hinein? Die Gruppen hatten dann die Gelegenheit, ihre Programme zu überarbeiten. Da haben sie natürlich Themen aus konkurrierenden Programmen übernommen. Dann wurde eines der Programme komplett per Abstimmung gewählt. Im zweiten Schritt wurde die Formulierungen der Vortragstitel diskutiert und ebenfalls abgestimmt. Das mühsame Verfahren hatte den Vorteil, dass das „Sieger-Programm“ eines wurde, das für die Studenten wirklich geeignet war. Bekanntlich muss der Wurm ja dem Fisch schmecken und nicht dem Angler. Die Wunsch-Schwerpunkte waren meistens Literatur- und sonstige Kulturthemen, teilweise auch theologische Fragen, weil das ja in der großen Fläche der Bildungsangebote weitgehend ausfiel. Neben den Vortragsabend hat es immer auch ein Glaubensgesprächskreis gegeben, der theologisch gearbeitet hat, auf mehr oder weniger hohem Niveau.

Sicherlich gab es auch einen zentralen Gottesdienst.

Traditionell gab es den Sonntagsgottesdienst. Der war bis zu deren Sprengung 1968 in der Universitätskirche und dann im Kolpinghaus. Das war eine kleine Hinterhofkapelle in der Gustav-Mahler-Straße, inzwischen existiert die Kapelle nicht mehr. Zu meiner Zeit ist außerdem wieder ein regelmäßiger Werktagsgottesdienst vor den Themenabenden eingeführt worden. Das hat ein bisschen Kämpfe gekostet, weil manche im Gemeinderat meinten, das bräuchte man nicht.

Dazu gab es auch Gemeinderatswochenenden. Arbeitskreise haben sich permanent getroffen. Dann gab es eher überregionale Gemeindewochenenden. Wichtig waren Angebote in der Pappelallee in Berlin; das war ein Tagungshaus, zu dem auch westdeutsche Referenten durch Tagesvisum via Westberlin kommen konnten. Andere Wochenenden fanden in irgendwelchen kirchlichen Jugendhäusern statt. Jedes Jahr – oder jedes zweite? – gab es eine Studentenwallfahrt ins sorbische Gebiet nach Rosenthal, die auch vorbereitet werden musste.

Während der Leipziger Messe im Frühjahr und Herbst waren immer die Partnerschaftstreffen. Das war natürlich aufgrund der staatlichen Beobachtung ein heikler Programmpunkt, der in den gedruckten Programmen nicht auftauchte. Wir hatten vier westdeutsche Partnergemeinden; und wir mussten immer damit rechnen, dass der Staatsicherheitsdienst durch Spitzel mit drin saß. Es war jedesmal ein ziemlicher Organisationsaufwand. Drei dieser Treffen haben wir während der Messe untergebracht. Also ging es so im Zwei-bis-Drei-Tage-Takt: Die einen raus, die nächsten rein. Da während der Leipziger Messe Semesterpause war, konnten wir außerhalb des normalen Programms die Treffen organisieren. Die vierte Partnergemeinde hatte nun das Pech, dass wir sie während der Leipziger Messe beim besten Willen nicht auch noch unterbringen konnten, sie  kam um Fronleichnam herum. Das brachte einen erheblich höheren Vorbereitungsaufwand, weil die Westdeutschen anders als zur Leipziger Messe staatliche Aufenthaltsgenehmigungen brauchten. Also mussten auf unserer Seite immer jemand den Antrag stellen und sagen, das sei der Cousin oder so ähnlich. Die ganzen Personalinformationen und Papiere hin und her und die Anträge, das war eine ziemlich umständliche Sache. Viele der Westdeutschen waren auch nicht dazu zu bringen, sich an die Grundregeln der Konspiration zu halten. „Bitte schreibt nicht in die Briefe: wir kennen uns ja noch nicht. Wenn das jemand anderes liest –  die grenzüberschreitende Post wurde meistens kontrolliert –, haben wir vielleicht Ärger!“

Die Leute aus den Partnergemeinden haben alle privat übernachtet?

Ja, sowieso. Damals haben sich eigentlich viele kirchliche Gruppen in Leipzig so getroffen, das sie angeblich die Messe besuchten, aber eben was ganz anderes machten. Die Treffen fanden in Pfarrhäusern oder auch in großen Wohnungen oder sonst-wo statt. Privatquartiere waren dann zuweilen ganze Luftmatratzenlager.

Wo kamen denn die Partnergemeinden her und mit wie vielen Leuten?

Freiburg war wahrscheinlich eine ganz alte Partnerschaft. Dort war ab 1917 die erste Studentengemeinde, die überhaupt in Deutschland gegründet wurde. Wir sind die zweite mit 1919 als Gründungsjahr. Ich vermute, dass die Partnerschaft aus dieser Phase kommt. Dann hatten wir noch Essen, Heidelberg und Tübingen. Letztere kamen nicht zur Leipziger Messe. Es sind immer so ungefähr 10, 15 Leute gekommen. Manchmal mit Studentenseelsorger, aber oft ohne. Die westdeutschen Gruppen hatten sich jeweils vor Ort gebildet nach der Devise: Wir fahren in die DDR, wer fährt mit? Manche Studierende kamen stabil mehrmals mit. Die Treffen sind, wie wir eigentlich erst nach der Wende wirklich mitbekommen haben, maßgeblich vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen finanziert worden. Die Reise wurde bezahlt, auch dass sie Geschenke mitbringen konnten. Wer sich für die DDR interessierte, der fuhr da mit.  Für unsere Leute war natürlich wichtig, dass sie westdeutsche Kontakte bekamen, aber auch hier haben wir nicht einfach jeden mit ins Boot genommen, sondern vorwiegend die aktiven Gemeindemitglieder. Auch  aus konspirativen Gründen.

Wie weit hat so etwas denn den Blick über die Staatsgrenze hinaus ermöglicht?

Wir haben nach der Wende etwas Überraschendes festgestellt: Bei diesen Treffen haben wir eigentlich relativ wenig von der anderen Seite erfahren. In der DDR hatte zwar so gut wie jeder Westfernsehen, aber wieviel hat man da von der westdeutschen Alltagswirklichkeit erfahren? Als dann die Wende kam, haben einige, die bei diesen Treffen dabei gewesen waren, selbstkritisch gesagt: Wir haben immer von uns erzählt. Wir haben aber nicht gefragt: Wie läuft denn das bei euch, wenn ihr fertig seid mit dem Studium? Wie geht das mit der Arbeitsplatzsuche? Informationen, die man nach 1989 gut hätte gebrauchen können, hatten wir deshalb kaum. Im Rückblick zeigte sich also, dass es von der Gewichtung her schon etwas schräg war. Für unsere Gemeindemitglieder war es natürlich trotzdem eine Erweiterung des Horizontes, und wahrscheinlich vor allem auch für die westdeutschen Gäste. Die Gruppen haben ja richtig thematisch gearbeitet bei diesen Treffen: historische Fragen oder Politik-Fragen oder Ähnliches wurden im Seminarstil behandelt.

Ich möchte zunächst noch allgemein bei der KSG bleiben: Wie viele Leute kamen regelmäßig?

Wir hatten bei Veranstaltungen einen Stamm von fünfzig, sechzig Leuten, vielleicht ein paar mehr. Ich würde schätzen, dass zu einem Vortrag aber auch mal hundert Leute gekommen sind. Die Studentengemeinde war vor meiner Zeit größer gewesen. Als ich 1987 kam, machte sich nämlich bemerkbar, dass auch die FDJ-Studentenclubs begriffen, dass sie irgendwas machen müssen, um Leute anzuziehen. Da ging vorher kaum einer hin, weil das Programm recht langweilig war. Diese Clubs haben also verstärkt heiße Themen angesprochen, was vorher nie gemacht wurde. Sogar Sendungen des Westfernsehens haben sie gezeigt und einfach die Ecke am Bildschirm zugeklebt, wo der Sender stand. Das war ein Zeichen, dass sich die politischen Verhältnisse zu lockern begannen, für uns wurde aber auf diese Art und Weise die Konkurrenz größer. Insgesamt hatten wir bei den Gemeindemitgliedern einen relativ guten Durchfluss, es kamen jedes Jahr um die 20 neue dazu, etwa so viele gingen oben raus.

Der Gemeinderat war bewusst stark besetzt, weil wir uns auch als Demokratieschule verstanden. Es gab immer vier Sprecher, zwei männlich, zwei weiblich, die in jedem Semester paarweise für ein Jahr gewählt wurden und deren Amtszeiten sich überlappten. Es gab auch einen Beschluss, dass niemand länger als zwei Jahre im Gemeinderat bleiben durfte, damit die nächsten nachrücken konnten und so möglichst viele eingebunden und „geschult“ wurden.

Heute ist die Durchmischung der Konfessionen und mit der ESG recht groß. Wie war es damals?

Es herrschte das Prinzip: Wo was los ist, gingen die Leute hin. Spätestens wenn es um Partnerschaften und Ehen ging, hat man gemerkt, wie viele evangelisch-katholische Beziehungen entstanden waren. Die beiden Studentengemeinden haben das Programmheft immer zusammen gehabt, und in der Winterpause hatten wir ein gemeinsames Veranstaltungsprogramm. Denn Januar/ Februar war die Phase, wo die Studierenden in die Produktion geschickt wurden oder es militärische Weiterbildungen und ähnliche seltsame Armeegeschichten gab. Der Studienbetrieb ruhte, und folglich lief auch in den Studentengemeinden alles mit „gedämpftem Trommelklang“.

Das Patronatsfest ist bekanntlich eine große Sache, Pater Knüfer hat es als „Heilige Kuh“ bezeichnet. Wie war das zu Ihrer Zeit?

Es hatte einen ziemlich geregelten Ablauf. Es gab einen Kulturabend und einen Festgottesdienst mit Festvortrag. Dazu einen Tanzabend: Der war eine hochsensible Angelegenheit, weil er mit dem Veranstaltungsgesetz der DDR kollidierte, dass für solche Veranstaltungen eine behördliche Genehmigung vorschrieb, die wir als KSG nie erhalten hätten. Also segelten wir unter der Flagge des Katholischen Elisabethkrankenhauses und deklarierten das Ganze als Absolvententreffen der Krankenpflegeausbildung. Aber wie sollte man 150 Leute im Saal vorher informieren, dass das Wort “Studentengemeinde“ nicht fallen soll? Die Bedienung oder die Gaststättenleitung müssen also blind und taub gewesen sein, wenn sie nicht mitbekommen haben, dass etwas ganz anderes abläuft als angekündigt.

Es gab beim „Patfest“ auch immer eine Theater-Aufführung. Eine hochspannende Angelegenheit – wer macht’s, was wird gespielt? Das wurde im Gemeinderat abgestimmt. Die Verantwortlichen haben sich an große Dinge herangetraut: Die „Nashörner“ von Ionesco, „König Ubu“ von Jarry und „Caligula“ von Camus habe ich in starker Erinnerung. Das waren Highlights gewesen!

Wozu der große Aufwand? Weil es die Gelegenheit war,  bei der sich die Studentengemeinden untereinander begegneten. Die Auswärtigen sind angereist, sie mussten untergebracht werden et cetera. Unsere Leute sind entsprechend zu den Patronatsfesten der anderen gefahren. Diese mussten also auf DDR-Ebene einigermaßen koordiniert ablaufen, damit nicht mehrere KSGn das gleiche Wochenende belegten. Hinterher gab es noch eine Aufräumfeier, für diejenigen, die sich engagiert hatten. Also, der Aufwand war schon enorm. Es war ein Höhepunkt im Jahresprogramm, er schweißte die Gemeinde zusammen.

Ich nehme an, die ganze Versorgung wurde auch selbst organisiert.

Ja, sicher! Wer die DDR-Zeiten kennt, weiß: Die Versorgung war ein großes Problem. Was macht man zum Mittagessen? Da gab es keinen Catering-Dienst, der lieferte. Bier war leicht zu bekommen, aber beim Wein wurde es schon eng. Da haben die Studierenden ganz schön geackert, dass es funktioniert und ausreichend zum Essen und Trinken da ist. So gab es immer auch einen Abend mit Buffet.

Insgesamt galten Studentengemeinden ja als gewisse Freiräume. Mussten Sie als verantwortlicher Pfarrer da auch die politische Brisanz im Auge haben?

Im Nachhinein gesehen hätte man schon 1987 deutlich merken können, dass die Wende sich vorbereitete: Die Studenten hatten einfach weniger Angst als zu früheren Zeiten. Ich war da derjenige, der eher gebremst hat: Leute passt auf! Meine Sorge war, dass die ganze Gemeinde auseinander läuft, wenn hier der Blitz zum Beispiel durch eine Verhaftung einschlägt, wie es die Studentengemeinde in Zwickau aufgrund einer Denunziation erlebt hatte. Der Staatssicherheitsdienst hätte sicher kein Problem gehabt, zwei Leute rauszugreifen und einzusperren. Dann wäre natürlich allgemeines Misstrauen gesät worden. 1989 wurde noch deutlicher, dass viele Studierende die Angst vor der Staatsmacht, ob begründet oder aus Naivität, verloren hatten. Dass sie dabei teilweise ihre Studienplätze riskierten, hat mich schon erstaunt. Auch die Angst, sich mit den Westdeutschen bei den Partnertreffen einfach so in der Öffentlichkeit sehen zu lassen, war erheblich weniger vorhanden als in früheren Zeiten, wie ich durch den Erfahrungsaustausch mit meinen Vorgängern erfuhr. Insgesamt war aber die politische Brisanz sehr schwer abschätzbar. Auf jeden Fall gehörte zum Neuenwochenende als wichtiger Programmpunkt: Wie reagiere ich, wenn mich der Staatssicherheitsdienst anspricht, Spitzeldienste zu leisten? Da haben wir die Studierenden direkt geschult. Von einem Anwerbeversuch, der aber vor meiner Zeit lag, habe ich direkt erfahren.

Was kam da nachträglich zur Stasi noch zu Tage ?

Aus meiner Zeit weiß ich nichts. Ich habe im Nachhinein einen Bogen um diesen Komplex gemacht und nie nachgeforscht, ob irgendwelche Akten da sind. Dass wir unter Beobachtung standen, war uns bewusst. Es ist später  herausgekommen, dass auf der anderen Straßenseite eine konspirative Wohnung gelegen hatte, die uns wahrscheinlich abgehört hat. Zumindest war die Technik dafür vorhanden, um mitzubekommen, was in den zur Straße liegenden Räumen am Peterssteinweg stattfand. Es waren sicher auch immer wieder Informanten unter den Anwesenden, das war unabwendbar. Den Ausdruck „IM“ für „Inoffizieller Mitarbeiter“ kannten wir damals übrigens noch nicht. Ich habe zur Vorsicht gemahnt, wollte aber kein Misstrauen schüren: Bitte erzählt nicht ohne Nachzudenken irgendwelchen Unsinn, mit dem ihr vor Gericht landen könnt. Die Hauptsorge galt  eigentlich weniger der Staatssicherheitsdienst, sondern der „E und A“, der „Abteilung für Erziehung und Ausbildung“ der Universität. Das war quasi die Beobachtungsabteilung, die darauf achtete, dass die Studenten auf Linie blieben, denn ein DDR-Studium sollte auch immer eine Kaderschmiede sein. Wenn da jemand angeschwärzt wurde, riskierte er eine Exmatrikulation. Zumindest in meiner Zeit hatte ich den Eindruck, der Staatsicherheitsdienst hielt still, solange wir nicht übermäßig auffällig wurden. Die hatten eher Probleme mit der Evangelischen Studentengemeinde, wo sich zunehmend Ausreisekandidaten versammelten. Die dominierten manche Veranstaltungen sogar. Da traten also Leute auf, die mit einem Studium eigentlich nichts zu tun hatten, sondern einen Anlaufpunkt und Gleichgesinnte suchten.

Ausreise war in der KSG selbst kein großes Thema?

In der KSG meines Wissens nicht. Als im Sommer 1989 Ungarn aufging, war ich echt gespannt, wer zurück kommt. Es waren aber im Herbst alle wieder da. Wohl weil niemand seine Papiere dabei hatte. Im Westen hätte man nichts in den Händen gehabt, kein Abiturzeugnis et cetera. Es war schwierig oder sogar gefährlich, so etwas nachträglich in den Westen zu transferieren. Wer geflohen war, konnte also die Studienkarriere nicht so ohne Weiteres fortsetzen. Das war wahrscheinlich der Hauptgrund. Wir hatte ein oder zwei Absolventen, die in diesem Sommer in den Westen gegangen waren. Ich kenne auch nur einen Fall eines regulären Ausreiseantrages. Die Studentin hatte jemanden bei einem Partnertreffen kennengelernt und nun wollten sie heiraten. Irrsinnigerweise kam die Genehmigung für sie am 9. November 1989, innerhalb von 24 oder 48 Stunden ausreisen zu können und dann auch zu müssen. Am Vormittag hat sie sich, inzwischen schon Absolventin,  von mir verabschiedet, und in der Nacht ging die Mauer auf! Das war absurd: Ich sehe sie nach dem Gespräch noch davon wandern und dachte: Die wird ausreisen, dann siehst du sie die nächsten Jahre nicht wieder, weil solche Leute ewig lang keine Einreise bekamen.

Jetzt sind wir thematisch direkt bei der Wende. Wie stark war die KSG da involviert?

Man muss zunächst einmal den Kontext ins Auge fassen. Der Herbst 1989 war, anders als in Peking oder Prag, keine Studentenrevolte. Es war die Revolution derjenigen, die eigentlich schon saturiert waren und auf dem Weg nach oben an die gläserne Decke gestoßen sind. Das Auto war da und möglicherweise auch schon ein Häuschen, aber es ging nicht weiter: keine Reisemöglichkeiten, ständige Versorgungsmängel und vieles mehr. Hauptsächlich die waren nun auf der Straße. Es waren weniger die Studenten, weil sie relativ angepassten waren. Andernfalls hätten die meisten gar keinen Studienplatz bekommen! Diejenigen, die sich stark kirchlich engagiert haben, die gesagt hatten: Ich geh nicht zur Jugendweihe; drei Jahre Armee statt 18 Monate Wehrpflicht mache ich nicht mit!, bekamen keinen Studienplatz. Das soll nicht heißen, dass alle stark angepasst waren. Das waren sie nicht! Die überwiegende Zahl hatte aber schon Zugeständnisse gemacht, um vor allem die attraktiven Fächer, zum Beispiel Medizin, studieren zu können. Hinzu kommt, dass wir gegenüber der ESG die kleinere Studentengemeinde waren. Die Evangelische Kirche war sowieso mit der Nikolaikirche viel stärker involviert, man denke an die Friedensgebete und alles, was an Vorlauf passierte. Als katholische Studentengemeinde waren wir davon ein Stück entfernt. Das ist eine allgemeine Aussage, denn einige der Gemeindemitglieder waren sehr engagiert, zum Beispiel in staatlich wenig erwünschten Umweltgruppen.

Als es dann losging, haben doch erstaunlich viele mitdemonstriert, obwohl allen ausdrücklich verboten worden war, sich montags zur Zeit der Friedensgebete und der anschließenden Demonstration überhaupt in der Innenstadt aufzuhalten. Es wurde gedroht: Wenn Sie aufgegriffen werden, egal was Sie gemacht haben – Exmatrikulation! Sie haben am Montagnachmittag nichts in der Innenstadt zu suchen, gehen Sie an anderen Tagen einkaufen! Montags probte dort der Universitätschor , und die Mitglieder bekamen extra Ausweise dafür! Mir erzählte eine Studentin, dass sie beim Weg zur Demonstration von jemand wahrscheinlich von der Staatssicherheit direkt an der Jacke gepackt wurde. Sie wusste: Wenn ich mich jetzt wehre, bin ich weg. Das haben die Studierenden also riskiert.

Als die Revolution dann Fahrt aufnahm, haben sich auch Studierende beim Runden Tisch hier in Leipzig engagiert, einige haben schon vorher Demonstrationsplakate gemalt. Es geht das Gerücht, dass aus der katholischen Studentengemeinde das erste Plakat kam, das forderte, den Verfassungsparagraphen, der die Vorherrschaft der SED besiegelte, abzuschaffen: „Paragraph soundso abgeschaffen!“ Viele fragten, als das Transparent hochgehalten wurde: Was steht denn in dem Paragraphen überhaupt drin?

Was den Runden Tisch betrifft, spielte sich die Hauptsache dann in Berlin ab. Dort gab es auch einen Runden Tisch der Jugend, an dem eine Studierende der Berliner Katholischen Studentengemeinde saß. Fazit: An der Spitze sind wir als katholische Studentengemeinde sicher nicht gewesen, aber wir waren schon mit dabei.

Es gibt von Ihnen als Vorsitzenden der „AG Studentenseelsorger“ einen Brief vom 30.10.1989 an Ihre Kollegen, dass sich die Studentengemeinden „in Zeiten des Auf- und Umbruchs“ einmischen sollten, auch mit technischer Unterstützung. Warum war so etwas zentral?

Hier ging es hauptsächlich um die Vervielfältigungstechnik, über die wir im Unterschied zu den Gruppen verfügten. Die Behörden wachten mit Argusaugen über alles, was Drucktechnik war. Juristisch durften wir nur „Für den Innerkirchlichen Dienstgebrauch“ Vervielfältigungen herstellen. Wir hatten zum Beispiel ein Gerät, das mit einer Matrize bis zu zweitausend Exemplare drucken konnte. Mit anderen Verfahren kamen maximal 100 Stück zustande, dann musste man die Matrize neu tippen – wahnsinnig aufwändig. Ich weiß nicht mehr, ob das Angebot für die Gruppen tatsächlich in unserer Studentengemeinde auch genutzt wurde. Ich kenne nur die Anweisung eines Ordinariates – nicht des Dresdner –, die Oppositionsgruppen nicht an diese Geräte zu lassen. Erstens, weil man riskierte, dass die dann eingezogen werden. Zweitens: um nicht womöglich falschen Parolen Vorschub zu leisten. Das war also der Anlass und der Grund meines Briefes: Ich fand in dieser Situation es für eher angemessen, maximale Unterstützung zu geben.

Ich selbst habe damals politisch brisante Sachen von Berlin nach Leipzig transportiert. Viel lief ja über den inneren Postverkehr der Kirche. Als ich von evangelischer Seite gebeten wurde, mein Auto mit Broschüren, die weiterverbreitet werden sollen, vollzuladen, habe ich die in Berlin abgeholt und hier den entsprechenden Leuten abgegeben. Anders ging das gar nicht.

Manchmal mangelte es auch an Kommunikationstechnik. Die ESG hatte ein sogenanntes Kontakttelefon. Das hatte die Funktion, das zu verhindern, was heute „Fake News“ sind – also die Gerüchteküche klein zu halten. Da konnte jeder anrufen: Bei uns ist jemand verhaftet worden – oder die Verhafteten sind inzwischen wieder frei. So entstand ein alternatives Nachrichtennetz zu dem regulierten der DDR-Medien, aber eben auch eine Absicherung gegenüber Falschmeldungen, die gezielt gestreut wurden oder einfach umliefen. Auch die westlichen Nachrichtenagenturen riefen dann diese Kontakttelefone an, wenn sie wissen wollten, was eigentlich los ist. So konnte gesagt werden: Verhaftungswelle stimmt nicht; das ist ein Gerücht, oder dies oder jenes hat es tatsächlich gegeben. So konnte verhindert werden, dass durch falsche Informationen die Situation unnötig angeheizt wurde.

Schauen wir in die Nachwendephase. Es gab ja eine starke Politisierung. Nicht zuletzt ihre beiden Brüder sind politisch aktiv geworden. Andere sind direkt in den Westen gegangen. Wie sah es in der KSG aus?

Die sogenannte „Wende“ hat schon zu einer enormen Politisierung geführt. Es hat in der Studentengemeinde vor der ersten freien Wahl Arbeitskreise gegeben, um sich mit den Parteiprogrammen auseinander zu setzen. Eigentlich war der größte Teil der Studentengemeinde eher nach links orientiert. Es kamen dann später alle Parteien vorbei, das heißt ihre Förderwerke tauchten auf. Die Friedrich-Ebert-Stiftung kam zuletzt. Die hatten offensichtlich nicht auf dem Radarschirm, dass sie bei den Katholiken SPD-Sympathisanten finden. Nachdem bei der ersten freien Volkskammerwahl die CDU gewonnen hatte, war in weiten Teilen der KSG Katerstimmung; die geplanten Feten fielen aus. Nicht das die SED dranbleibt, wünschten die Studierenden sich, aber mehrheitlich auch nicht die CDU.

Weggegangen sind unmittelbar nach der Wende eigentlich wenige Studierende, weil der Übergang in die westdeutschen Strukturen zunächst schwierig war. Das Cusanuswerk, die katholische Studienförderung, hatte extra ein Programm aufgelegt, um ostdeutsche katholische Studenten an westdeutschen Universitäten zu fördern. Denn anfangs funktionierte noch nichts: So gab es für die Ostdeutschen kein Bafög. Das war alles erst im Anlaufen.

Wer von den Absolventen blieb, waren vor allem die Bauingenieure. Die wurden hier im Osten rasch gebraucht, als der Bau-Boom begann. Lehramtsabsolventen konnten auch nicht weg, weil das in der DDR Gelernte mit dem westdeutschen System nicht kompatibel war. Bei anderen Fachabschlüssen fing es dann aber bald an, dass sich viele eine Stelle im Westen suchten, zumal die Zukunft in Ostdeutschland zunächst sehr unsicher war.

Auf jeden Fall war überraschend, wie gut viele Studierende informiert waren, wohin man reisen konnte. Manche fingen überhaupt nicht mit Europa an, die Meinung war: Paris und so weiter kann ich später noch machen. Also war sofort der Himalaja das Ziel oder sonst welche entfernten Weltgegenden, wo man normalerweise keinen Urlaub machen würde. Das ging sofort, schon im Sommer 1990, los!

Welche Unsicherheiten und Ängste haben Sie denn gerade als Seelsorger in dieser Zeit mitbekommen?

Wer uns große Vorwürfe gemacht hat, und das mit Recht, waren die ausländischen Studenten. Wir hatten einige aus Afrika in der KSG. Die waren zu DDR-Zeiten mit irgendwelchen staatlichen Stipendien gekommen, und denen brachen plötzlich die Geldgeber weg. Sie warfen uns vor, dass wir in dieser Umbruchphase sehr stark um uns selbst gekreist sind.

Als Studentengemeinde mussten wir nachdenken: Wie läuft das mit der Finanzierung weiter? Bei der Währungsumstellung mussten wir mit unseren ganzen Kassen klarkommen, denn es durften ja nur geringe Summen zu einem günstigen Kurs umgetauscht werden. Wir haben also sehr viel über uns selber nachgedacht, das war wahrscheinlich ein Fehler. Aus meiner Perspektive ist es deshalb ein großes Glück, dass dann nach zwei Jahren jemand die Studentengemeinde übernahm, der aus den alten Bundesländern kam und die Strukturen kannte; jemand, der die Studentengemeinde auf einen neuen Kurs gebracht hat: Wir müssen jetzt nach draußen gehen, in die Universität hinein! Es gab zwar eine ganze Reihe von Studierenden, die sich sofort an der Universität engagierten und dort auch Werbung für die Studentengemeinde machten. Aber die große Menge hat so schnell diesen Perspektivwechsel nicht hinbekommen, sondern war weiter vor allem daran interessiert, dass es familiär bleibt, dass man unter sich bleibt und weniger die Chancen nutzt, die jetzt plötzlich bestehen.

Gab es eine gewisse Angst, dass man diesen geschützten Raum „KSG“ verliert?

Die Studierenden waren in dieser Frage sicher unterschiedlich. Der größere Teil war eher darauf orientiert, alles beim Alten zu belassen. Das kann man in gewissen Weise verstehen: Jeder suchte in diesem ganzen Durcheinander irgendwo Inseln, wo man noch stabil stehen kann. Keiner macht sich heute eine Vorstellung, was diese zwei Jahre, 1989 bis 91 für den Einzelnen bedeutet haben! Es hatte sich alles geändert: Die Leute mussten sich um eine Versicherung kümmern, sie wussten nicht, was mit den Wohnungsmieten passiert oder ob sie da wohnen bleiben können, wo plötzlich die Besitzer auftauchten, die ihre Häuser oft zu Recht zurückgefordert haben. Die Währung änderte sich, das ganze Arbeitsfeld ebenso. Das ist für viele eine enorme Stresssituation gewesen. Vielleicht war es für junge Leute, die erst am Anfang standen, leichter zu verkraften als für die älteren; aber jene haben natürlich mitbekommen, dass ihre Eltern plötzlich unsicher wurden. Studienprogramme und ganze Studienrichtungen wurden in die Tonne getreten. Die Studierenden kannten alle die regelmäßige „Rotlichtbestrahlung“: marxistisch-leninistisches Grundlagenstudium und ähnliche „Fächer“ – das fiel weg. Sie wussten also teilweise nicht, wie das nächste Semester läuft, was ihr Abschluss noch wert sein wird. Da war die Studentengemeinde ein Ruhepol.

In diesen Kontext fällt ja auch der Umzug der KSG im Sommer 1991, oder?

Den habe ich eigentlich nicht mehr miterlebt. Die Adresse Peterssteinweg 17 war eine große Wohnung im zweiten Stock, die der kommunalen Wohnungsverwaltung gehörte, aber extrem verschlissen war. Wir hatten da immer größere Sorgen, ob wir die Räume überhaupt halten können. Vieles war unter DDR-Verhältnissen nicht zu reparieren, man bekam weder Material noch Handwerker. Die Türen kamen aus den Rahmen. Der Balkon hinten, wo die Sekretärin im Sommer gern den Schreibtisch draufgestellt und in der Sonne gearbeitet hatte, war plötzlich baupolizeilich gesperrt, denn der hätte jeden Moment runterfallen können – alles durchgerostet, kaputt. Wir haben nach der Wende Geld bekommen aus irgendwelchen staatlichen Jugendfonds der DDR, die aufgelöst wurden. Da konnten wir einiges in Schuss bringen. Im Sommer 1991 haben wir dann noch feierlich den Fußboden gestrichen. Da hatte keiner damit gerechnet, dass wir in kürzester Zeit aus den Räumen müssen, denn dann schossen die Mieten nach oben.

Ein neues Domizil zu suchen war also die erste große Herausforderung, vor der mein Nachfolger Bernd Knüfer stand. Es war überhaupt ein Glück, dass er schon Mitte des Sommersemesters 1991 kam, während ich noch da war. So war er schon einigermaßen mit der KSG vertraut, als der große Sturm losging: Es fiel nicht nur der Peterssteinweg weg, in kürzester Zeit war auch die Kolpinghauskapelle wegen Baufälligkeit weg, wo wir die Gottesdienste hatten. Die „Hexe“ fiel weg, weil sie unter Gewerberaum fiel und die Miete explodierte, außerdem wollten die ursprünglichen Besitzer sie verkaufen. Nach etwa anderthalb Jahren war also alles, was wir an Versammlungsräumen hatten, weggefallen.

Das klingt sehr ernüchternd.

Das war schon eine gewissen Heimatlosigkeit für manche. Und für viele ein Abschied mit Schmerzen. Doch es war unvermeidlich, und ich glaube, inzwischen ist der Flossplatz 32 ganz gut angenommen.

Das ist ja der Vorteil bei einer Studentengemeinde: Sie ist ein Durchlauferhitzer. Irgendwann kommt sozusagen der Pharao, der von Josef nichts mehr wusste, der also die ganze Vorgeschichte nicht kennt. Da kann man sich schneller auf die neuen Verhältnisse einstellen.

Pater Knüfer hat ja in seinem Interview sehr ausführlich die „Trennungsschmerzen“ beschrieben, als Sie die KSG verlassen haben. Sind die bis zu Ihnen durchgedrungen?

Ich kann mich jedenfalls kaum daran erinnern, dass sich Studierende damit an mich gewandt haben. Ich hoffe, dass ich so loyal gewesen bin zu sagen: Leute: ich bin nicht mehr der Studentenpfarrer.

Mein Auftrag war: Ich sollte mich habilitieren. Bald meinte dann der Professor, den ich dafür angesprochen hatte: Kommen Sie nach Bonn! So war ich sehr schnell aus Leipzig weg und bin nach einem Herbstsemester in Bonn, wo ich noch gependelt bin, im Frühjahr 1992 schließlich komplett nach Tübingen gezogen.

Ich hatte eben gegenüber Bernd Knüfer den Vorteil, dass direkt vor mir praktisch kein Studentenpfarrer da war. Ich war vier Jahre da, und dann kam Bernd Knüfer in eine Phase des Umbruchs, der ja am wenigsten mit ihm als Person zusammenhing. Die Studentengemeinde musste sich neu aufstellen! Es kamen nämlich bald auch Studierende, die nicht mehr so DDR-sozialisiert waren, vor allem auch westdeutsche. Da war schon ein Umbruch und Neuanfang nötig. Dass einige den Zeiten unter Eberhard Tiefensee nachgetrauert haben mochten, ist der Historie geschuldet.

Wie war denn für Sie persönlich der Wechsel nach Westdeutschland?

Für mich war der Schritt im Herbst 1991 nach Bonn entscheidend. Dort kannte ich zum Glück schon den Studentenpfarrer Robert Kramer, weil der Vorsitzender der westdeutschen Studentenpfarrer-Konferenz war. Ich habe im Priesterseminar gewohnt, das war für mich schon ein Kulturbruch. Erstens wurde ich unter Universitätskarriere-Gesichtspunkten betrachtet. Dass ich schon Studentenpfarrer und sogar Vorsitzender einer ganzen Studentenpfarrerkonferenz gewesen war, interessierte an der Universität keinen. Ich war ein no name – das war eine neue Erfahrung. Zweitens war ich noch nie an einer Universität gewesen. In Erfurt fand das Studium an der kirchlichen Hochschule statt. Die hatte Universitätsniveau, aber sie war kein Universitätsbetrieb. In die Universität in Leipzig war ich vor 1989 nicht hineingekommen. Es war deshalb eine enorme Umstellung. Ich habe das erste Mal in meinem Leben Kopierer in Funktion gesehen! Dass ich mich in einem neuen Kontext bewegen musste, war ziemlich hart. Es galten andere Spielregeln, das habe ich sehr schnell gemerkt. Ich bin im Nachhinein sehr dankbar, dass ich wenigstens ein Stück weit erlebt habe, was  im Grunde genommen alle ehemaligen DDR-Bürger so in etwa erlebt haben, aber die wenigsten Pfarrer. Die konnten in ihrer Pfarrei sitzen bleiben – da passierte nicht viel Umstürzendes.

Bei Gottesdienstvertretungen im schwäbischen Umfeld von Tübingen, wohin ich dann im Frühjahr 1992 gewechselt bin, habe ich dann auch Volkskirche erlebt, das war schon gewöhnungsbedürftig! Ich bin ein Diaspora-Mensch, da kannte ich vieles eben nicht: Feldprozessionen und Ähnliches. Auch das war eine Horizonterweiterung.

Ich bin später zurück nach Erfurt gekommen und habe eben diese westdeutsche Perspektive mitgebracht. Ich konnte damit die Kolleginnen und Kollegen besser verstehen, die aus den alten Bundesländer bei uns landeten. Mir war auch vieles schon vertraut, was dann dringend notwendig wurde: mehr Werbung machen, das Internet nutzen. Heute kaum vorstellbar, aber ich habe das Internet 1997 in der Erfurter Hochschule überhaupt erst eingeführt.

Ich habe hier einen Bericht von Ihnen zur Situation der KSG aus dem Jahr 1991. Da beschreiben Sie eine KSG-Krise; Veranstaltungen sind wenig besucht, es fehlt an Engagement. Unten heißt es „Sich-gegenseitig-Sehen-und-Austauschen“ reize nur noch wenige. Mir kam das sehr bekannt vor, solche Phasen gibt es wohl immer mal wieder. Im Kern ist dann oft die Frage: Bildungsort versus Begegnungsort. Was würden Sie denn sagen, was macht eine Studentengemeinde aus?

Der Bericht stammt von einem Gemeinderatwochenende. In der KSG stand damals wirklich Gemeinde im Zentrum. Es kamen sicher viele wegen des Programms. Wer etwas über Salvador Dalí hören wollte, musste zu unseren Vorträgen kommen. Das gab es eben in der weiten Fläche nicht. Der größte Teil ist aber aus speziell kirchlichen Gründen gekommen – so haben auch einige wieder Kontakt zur Kirche bekommen, die in den Heimatgemeinden weg waren. Die Studentengemeinde ist da ein relativ anonymer Raum. Wenn ich in meiner Heimatgemeinde auftauche, so bemerkte mal eine Studierende, heißt es: „Ach, mal wieder da?“ So sind ja oft die Willkommensreaktionen, die jemanden endgültig vertreiben.

Wir hatten allerdings auch ähnliche Probleme, die Neuen aufzufangen. Die Älteren bildeten Zirkel, in die man nicht hineinkam. Trotzdem habe ich von Leuten, die nach der Wende durch die Studentengemeinden zogen, gehört, dass Leipzig erheblich offener erschienen sei als andere KSGn. Viele sind also wegen ihres Freundeskreises und zum Austausch gekommen. Nicht zuletzt war die Studentengemeinde natürlich auch der Ort, wo man sich einen Partner beziehungsweise eine Partnerin gesucht hat. Deswegen waren ja auch die Patronatsfeste so wichtig: Wenn der eigene Pool vor Ort ausgeschöpft war, bestand immer noch die Chance, jemanden kennenzulernen, der aus dem gleichen kirchlichen Hintergrund stammte.

Es geht also vor allem darum Freunde und Gleichgesinnte zu treffen?

Vor allem vielleicht, aber eben nicht nur. Das habe ich in den regelmäßigen Glaubensgesprächskreisen gemerkt. Man kommt biographisch in eine Reflexionsphase hinein, wo Glaube noch einmal neu aufgestellt werden muss. Da ist die Studentengemeinde ein guter Anlaufpunkt. Das Problem war dann eher, dass die Studenten, die weggingen, oft nicht in ihre neuen Gemeinden hineinkamen. Sie waren nun einen bestimmten Stil gewöhnt, wie man Christentum leben und Gottesdienste feiern kann. Wir haben wirklich keine wilden Sachen gemacht, aber eben doch vieles anders als in traditionellen Gemeinden. Für manche war es sehr schwer, dann andernorts Boden unter die Füße zu kriegen.

Pater Knüfer erzählt ja, ihm sei vorgeworfen worden zu modern zu sein. Was war denn vorher der Modus, der also „nicht-modern“ war?

Ich kann selber nicht einschätzen, was meine Art betrifft, Studentengemeinde zu gestalten. Dieser „Retro-Effekt“, der heute sehr stark in der Jugend da ist, war es damals aber noch nicht. Dass man wieder lateinische Messen bevorzugt, Weihrauch möchte – das ist in der ganzen Katholischen Kirche viel später gekommen. Es ist in meinen Augen der Versuch eines sehr traditionellen und vielleicht auch etwas enger geführten Christentums. Die Gasthörer im Seniorenstudium an der Erfurter Fakultät haben das auch signalisiert: Hier sind ja im Vergleich mit den Studierenden die Professoren noch die progressivsten. Ich kann mir gut vorstellen, dass auch Bernd Knüfer, der aus der anderen Welt des nachkonziliären Aufbruchs kommt, wie ich enorme Schwierigkeiten mit solchen Entwicklungen hat.

Sie hatten ja in Erfurt die letzten zwanzig Jahre weiter mit Studenten zu tun. Gibt es da große Unterschiede, oder bleiben die grundlegenden Fragen die gleichen?

Es ist schwer, ein allgemeines Bild zu zeichnen. Mir fällt auf, dass wir, durch die Diktatur-Erfahrung, politisch wacher gewesen sind, engagierter und auch reflektierter. Ich würde schon behaupten, dass gesellschaftspolitische Dinge viel mehr diskutiert wurden, auch wenn das im Vortragsprogramm nicht so präsent gewesen war. Studierende kann man heute viel weniger für Fragen wie „Was wird aus unserer Gesellschaft in Zukunft?“ interessieren. Es kann sein, dass sich das durch die wachsende Spaltung in der Gesellschaft wieder ändert. Umweltfragen stehen vielleicht etwas weiter oben, aber ansonsten sind die meisten wohl im Selbstfindungsmodus. Wir haben aber auch Leute gehabt, die sehr wach auf die Situation ringsherum geschaut haben. Bei der sogenannten „Flüchtlingskrise“ waren viele von unseren Theologie-Studierenden sofort engagiert. Viele haben auch Projekte gemacht, die ganz gezielt über den kirchlichen Rahmen hinaus gehen. Das ist übrigens eine neue Entwicklung, dass dieses Binnenkirchliche zunehmend aufgebrochen wird, das zu DDR Zeiten noch viel stärker war.

Da sind wir bei einem Ihrer jüngeren Themen: Kirche in einem areligiösen Umfeld mit einer Mehrheit von Atheisten und Indifferenten. Kirche soll hier eine „Stellvertreterfunktion“ einnehmen. Was meinen Sie damit?

Mir schwebt vor, dass wir eine gewissen Platzhalter- oder auch Wächter-Funktion haben. Das heißt, wir sollen eine Position offen halten, die für das Ganze wichtig ist. Das Ganze sind nicht wir. Hier im Osten Deutschlands sowieso nicht, im Westen in Kürze aber wohl auch nicht mehr. Wir haben eine bestimmte Funktion in diesem Ganzen, die wir im Sinne eines Dienstleisters wahrnehmen sollten, etwa was Rituale betrifft. Ich denke beispielsweise an Katastrophenliturgien: Ein Flugzeug stürzt ab, und sofort ist die Kirche gefragt. Christen spielen an vielen Punkten eine wesentliche Rolle, die auch von anderen eingenommen werden könnte, deshalb „Platzhalter“. Zum Beispiel: Wir haben früher mal die ersten Schulen und Krankenhäuser gebaut – das machen „die anderen“ inzwischen auch ganz gut.

Mir scheint es ganz wichtig, dass wir auf dem Radarschirm haben: Wir erleben eine neue Situation. Noch nie ist das Christentum auf weit verbreitete Nichtreligiosität getroffen, seit 2000 Jahren nicht und in anderen Regionen bisher auch nicht. Böhmen und Estland kommen vielleicht noch in die Nähe dessen, was wir in Ostdeutschland erleben. Das heißt, wir müssen uns völlig neu aufstellen. Wenn jemand mit den vier Buchstaben „G-O-T-T“ nichts anfangen kann, müssen wir sozusagen beim religiösen ABC beginnen. Da haben wir eine große Aufgabe!

Und das gilt auch für die Studentengemeinde?

Selbstverständlich. Gerade eine Studentengemeinde müsste ein niedrigschwelliger Anlaufpunkt für Leute sein, die sich diffus für Spiritualität und Religiosität und Sinn- oder Glaubensfragen interessieren. Sie muss Impulsgeber sein und sich etwa in Gremien, wo Christen dabei sind, immer wieder entscheidend einbringen. Die KSG muss sich also ab und zu in die Augen schauen und fragen: Wozu sind wir überhaupt da? Dass man grundstürzend über das eigene Sein und Nichtsein nachdachte, passierte zu meiner KSG-Zeit regelmäßig etwa aller zwei Jahre. Das fand ich gut. Ich glaube, eine Studentengemeinde ist leichter dazu bereit als eine traditionelle Ortsgemeinde, wo Leute schon seit 40-50 Jahren dabei sind. Wenn nämlich ständig Neue kommen, von außen reinschauen und fragen: Was macht ihr hier eigentlich? Was soll das? Klar, dass man die nicht rausekelt, sondern versucht deren Potential zu nutzen. Die KSG ist eines der Laboratorien für die Kirche: Da könnte ein Innovationseffekt eintreten, der dann wieder nach außen ausstrahlt.

Die Fragen stellte Anton Walsch

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