Peter Krebs war nicht nur 1947-1950 Mitglied der Studentengemeinde Leipzig, sondern ist zusammen mit seiner Frau Rena seit fast dreißig Jahren Vermieter und tatkräftiger Unterstützer der KSG Leipzig am Floßplatz. Wir haben ihn gebeten zu erzählen, wie es dazu kam.
Wenn ich meine Gedanken 6o, 62 Jahre zurückschweifen lasse in die ersten Nachkriegsjahre nach Leipzig in der Zeit von 1947 bis 1950 zur damaligen KSG, fällt es selbst mir schwer, bestimmte Einzelheiten, aber auch Stimmungen und Erlebnisse auferstehen zu lassen. Ich gehöre zu den Uralt-KSG-lern, von denen es in einigen Jahren keine Zeitzeugen mehr geben wird. Mein Versuch geht also dahin, meine eigenen Erinnerungen zu verlebendigen. Noch kann zurückgefragt werden.
Über die materielle Not jener Zeit und dem Mangel an allem, dem täglichen Kampf um Essbares und im Winter um Heizbares ist viel geschrieben worden, so dass ich hier nicht lange verweilen muss. Viel größer war im Osten die Enttäuschung darüber, dass mit dem Ende des Nationalsozialismus und seiner Schreckensherrschaft nicht die erhoffte Freiheit gekommen war. Es gab eine neue, genau so gnadenlose Diktatur durch den Marxismus/Leninismus der Sowjetunion und ihren ostdeutsche Vasallen, die SED.
Der absolute Mittelpunkt der Leipziger KSG war in dieser Zeit Dr. Werner Becker, Oratorianerpater, Guardinischüler, bekannter Newman-Forscher und später Konzilstheologe. Er war ein schmaler, eleganter, großer Mann von geschliffenem Auftreten und großer Bildung. Durch seine dicken Brillengläser – er war hochgradig kurzsichtig – waren seine scharf beobachtenden und klugen Augen etwas verdeckt, so dass er in seiner geistigen Scharfsichtigkeit von vielen nicht auf Anhieb erkannt wurde. Sie wurde jedoch sofort offenbar, wenn man ihn sprechen hörte. Er sprach nicht nur, sondern mit ihm wurde auch gesungen, er selbst spielte sehr gut die Laute. Der Höhepunkt jeder gesellschaftlichen Veranstaltung war die Moritat von „Hildebrand und Hadubrand“. Er konnte sie nicht oft genug vorsingen.
Dr. Becker verfügte über ebenso verschlungene wie geheimnisvolle Beziehungen „zum Westen“, wobei auch seine Herkunftsfamilie in Krefeld eine Rolle spielte. Die Gemeindemitglieder verdankten ihm manches „Caritaspaket“, aber auch Bücher und Zeitschriften, die vom Regime streng verboten oder geächtet waren. Seine mangelnde organisatorische Begabung in der Gemeinde ersetzte seine ihm bedingungslos ergebene und tüchtige Sekretärin Maria Londenberg. Sprecher der Gemeinde war damals der kürzlich verstorbene Roland Antkowiak, zuletzt in Görlitz, der die ebenfalls aus der Gemeinde kommende Elisabeth Slotta heiratete. Beide waren bis zur Wende aufrechte Katholiken, die schwere berufliche Benachteiligungen und Schikanen tapfer ertrugen.
Der „Doktor“ – wie er nur genannt wurde – blieb aber auch später seinen Gemeindemitgliedern treu. Auf ausgeklügelten und abgestimmten Touren tauchte er während der sechziger Jahre im Westen auf. Er nahm Anteil am Schicksal der mittlerweile geschlossenen Ehen und daraus hervorgegangenen Kindern, deren Namen er im Kopf behielt und nach denen er sich liebevoll erkundigte. So war er auch bei uns in Köln zu Besuch und schloss meine ebenfalls aus Leipzig kommende Frau Rena und unsere 4 Töchter ins Herz. Unvergesslich bleibt uns seine spontane Bereitschaft, als ehemaliger Konzilstheologe und Beauftragter für die Oekumene seine theologischen Positionen unserem fundamentalistischen Kölner Gemeindepfarrer gegenüber zu vertreten. (Dieser ließ sich allerdings seinerzeit (1970) nicht spürbar beeinflussen, geschweige denn zu einer Haltungsänderung bewegen).
Mir selbst half der „Doktor“ bei meiner überstürzten Flucht nach Westberlin mit einem ebenso mutigen wie offenen Empfehlungsschreiben an die Berliner Studentengemeinde um meine Anerkennung als politischer Flüchtling mit Nachdruck zu unterstützen.
Ich selbst kam über die Jugendarbeit der Leipziger Gemeinden zu den Oratorianern in Leipzig Lindenau, wo ich von Pater Josef Jammers mit Dr. Becker zusammengebracht wurde. Später war ich als Medizinstudent ohnehin festes Mitglied der Gemeinde und wurde durch die wöchentlichen Gemeindeabende, in denen kritische Katholiken, die anderweitig keine Wirkungsmöglichkeit hatten, ihr Forum fanden. Aber auch die wöchentlich einmal stattfindende Studentenmesse am frühen Morgen in der später gesprengten Universitätskirche und das anschließende gemeinsame Frühstück mit mitgebrachten Broten und vom Hotel Thüringer Hof gespendetem Malzkaffee bleibt mir in prägender Erinnerung. Heimat der Gemeinde war in dieser Zeit das spärlich geheizte Pfarrhaus in der Karl-Heine-Strasse.
Wenn ich nach so langer Zeit einen kritischen Rückblick auf die damalige Zeit werfe, dann ist es die Tatsache, dass Reifung, Erotik und Sexualität und die Rolle der Frau überhaupt nicht angesprochen wurden. Das waren damals schlichtweg Tabuthemen oder allenfalls Themen für Rückfragen beim Beichten.
Und nun zu einer schicksalsträchtigen und vollkommen unerwarteten Wiederaufnahme meiner Beziehung zur Katholischen Studentengemeinde Leipzig im Jahre 1991. Ich sehe darin eine Fügung für die wir mit unserer ganzen Familie dankbar sind. Im Einzelnen passierte folgendes:
Der Jesuitenorden entsandte eine neue Gruppe von Priestern nach Leipzig, die nach der Wende die alten Traditionen in der Stadt fortsetzen sollten. Unsere westdeutschen jesuitischen Freunde wussten, dass meine Frau ein großes Haus im Musikerviertel nach der Wende von ihrer Mutter geerbt hatte und fragten bei uns nach einer Wohnung für die Priestergruppe an. Dieser Kontakt kam zunächst zu keinem Ergebnis, weil die Residenz der Jesuiten in ein Leipziger Problemviertel integriert werden sollte. Als dann wenige Tage später der KSG im Peterssteinweg gekündigt wurde, trat Pater Knüfer erneut an unsere Familie heran, ob wir nicht der Studentengemeinde Herberge bieten könnten in unserem Haus am Floßplatz 32 – nicht weit entfernt vom Peterssteinweg. Das erschien zunächst aus räumlichen Gründen nicht „machbar“, dann gelang es aber durch Umbauten und Zugewinn von zusätzlichem Raum, die Studentengemeinde tatsächlich in das Haus zu nehmen. Dass wir seither weit mehr als nur Vermieter, sondern – wie wir hoffen – unterstützende Freunde der derzeitigen Studentengemeinde sind, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit und Befriedigung: so als könnte ich in den vergangenen 17 Jahren etwas von dem zurückgeben, was ich seinerzeit durch meine – wenn auch nur kurze – Zugehörigkeit zur KSG an Prägung erhalten habe. Wir nahmen mit unserer Familie schon zweimal an Kirchweihfesten teil –zunächst lag die Kapelle im Souterrain – und dann musste sie aus Heizgründen ins Hochparterre verlegt werden.
So hat sich – vollkommen unerwartet – ein Lebenskreis geschlossen. Unsere katholische Identität und Solidarität mit der Kirche hat durch alle Stürme und Zweifel hindurch soweit durchgetragen, dass es uns ein Herzensanliegen ist und bleiben wird, der KSG in Leipzig ein Zuhause zu geben.
von Peter Krebs